1. Das 18-Millionen-Tonnen-Problem
Stellen Sie sich vor, Sie stehen nach Feierabend im Küchenbereich und schauen auf die Backbleche, Kühltruhen oder Buffetreste. Alles frisch, alles noch einwandfrei – und doch bleibt es oft ohne Abnehmer. Dieses Bild steht in Deutschland für ein gigantisches Problem: Jährlich landen laut BMEL zwischen 11 und 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, ein großer Teil davon wäre problemlos vermeidbar.
Gleichzeitig erlebt das digitale „Lebensretten“ einen echten Boom. Apps wie Too Good To Go erreichen neue Nutzerrekorde. Allein in den ersten sieben Monaten 2025 wurden weltweit rund 8,1 Millionen Mahlzeiten über die Plattform gerettet – ein Wachstum von 67 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Trend zeigt: Das Thema ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Die Folge für die Branche ist klar: Wer noch nicht dabei ist, lässt im wahrsten Sinne des Wortes Geld und Kunden liegen. Denn was heute im Müll landet, könnte morgen Umsatz, Imageboost und Reichweitenvorteil sein.
2. Das Prinzip „Überraschungstüte“
Viele Betreiber zögern zunächst, weil sie sich mehr Aufwand vorstellen, als tatsächlich entsteht. Doch das Grundprinzip von Too Good To Go ist simpel: Sie stellen sogenannte „Magic Bags“ ein – Überraschungstüten, deren Inhalt aus frischen, aber übrig gebliebenen Speisen besteht. Was genau drin ist, bestimmen Sie täglich neu. Gäste zahlen über die App, erscheinen im vorgegebenen Zeitfenster und holen ihre Tüte ab. Im Betrieb selbst entsteht kein zusätzlicher Bezahlvorgang.
Was Gastronomen besonders schätzen: maximale Flexibilität. Ist an einem Tag nichts übrig oder wird spontan doch alles regulär verkauft, lässt sich die Anzahl der Tüten bis kurz vor Abholung anpassen. Wer Bäckerei, Café oder Restaurant führt, weiß, dass der letzte Stundenabschnitt vor Ladenschluss oft Leerlauf bietet. Genau hier passt die Packroutine perfekt hinein.
Preislich funktioniert das Modell ebenfalls klar und transparent: Kunden zahlen meist ein Drittel des ursprünglichen Warenwertes. Aus 12 Euro Warenwert werden zum Beispiel rund 4 Euro Verkaufspreis. Too Good To Go behält pro Verkauf eine Provision (rund 1,15 Euro) und erhebt eine jährliche Gebühr. Aktuelle Infos dazu liefert die B2B-Seite auf toogoodtogo.com.
Was bedeutet das für den Alltag?
Vor allem eines: Die Menge und Abfolge der Arbeit bleibt kalkulierbar – und Sie behalten die Kontrolle über Ihre Abläufe.
3. Der Business-Case: Rechnet sich das?
Das Herzstück der ganzen Sache ist natürlich die Frage: Lohnt sich der Aufwand wirtschaftlich? Die Antwort fällt überraschend deutlich aus.
Erstens deckt der reduzierte Preis in vielen Fällen den Wareneinsatz – und zwar für Produkte, die ohne App 100 Prozent Verlust darstellen würden. Dazu kommt ein kleiner Deckungsbeitrag, der zwar kein zweites Standbein, aber ein solider Nebenerlös sein kann. Der Haken? Eigentlich keiner, solange das Packen der Tüten effizient organisiert ist. Optimal ist es dann, wenn dies in ohnehin ruhigen Minuten geschieht.
Zweitens sind die Einsparungen bei der Abfallentsorgung nicht zu unterschätzen. Gewerbebetriebe zahlen für Mülltonnenvolumen – jedes Kilo weniger spart Kosten. Und Lebensmittel wegzuwerfen bedeutet doppelte Verschwendung: Rund 2,5 Kilo CO₂-Äquivalente fallen laut NachhaltigeJobs.de für jedes Kilogramm produzierten Essens an. Wird es entsorgt, ist diese Energie schlicht verloren.
Drittens: Die steuerliche Seite bleibt unkompliziert. Die Einnahmen aus Food-Saving-Apps sind normal zu versteuern. Die üblichen Umsatzsteuersätze für Lebensmittel gelten weiterhin – keine Sonderfälle, keine Zusatzprozesse.
Unterm Strich ergibt sich ein Modell, das sich nicht nur moralisch, sondern auch betriebswirtschaftlich gut anfühlt. Oder wie ein TGTG-Sprecher es in einem Interview formuliert hat: „Es ist eine Win-Win-Win-Situation: Der Gastronom deckt seine Kosten, der Kunde spart, und die Umwelt wird entlastet.“
4. Marketing-Effekt: Neukunden durch die Hintertür
Wer in der App sichtbar ist, landet automatisch auf den Karten tausender Menschen im Umkreis – ohne einen Cent zusätzliches Werbebudget. Immer wieder zeigen Erfahrungsberichte, dass gerade hochwertige Produkte über die App neue Stammgäste generieren. Warum? Weil Kundinnen und Kunden Produkte probieren, die sie sich im Alltag sonst vielleicht nicht gegönnt hätten.
Ein Beispiel aus der Praxis: Ein kleines Sushi-Restaurant in einer Großstadt berichtet, dass viele Gäste nach ihrer ersten „Magic Bag“ später regulär zum Abendessen erschienen. Der reduzierte Preis senkt die Hemmschwelle, und wenn die Qualität stimmt, entsteht Bindung.
Darüber hinaus bietet die Abholsituation Chancen für Upselling. Ein freundlicher Hinweis wie „Möchten Sie noch einen Kaffee dazu?“ oder ein Flyer für das Mittagsangebot funktionieren überraschend gut – ohne aufdringlich zu wirken.
Und die Reichweite endet nicht an der Tür: Auf Instagram kursieren tausende Posts unter Hashtags wie #toogoodtogo oder #foodrescue, in denen Nutzer stolz ihre Ausbeute zeigen. Auch ohne aktive Social-Media-Strategie Ihres Betriebs profitieren Sie hier automatisch von User Generated Content.
5. Best Practice: Hotels & Buffets
Gerade Hotels mit Frühstücksbuffets kennen die Herausforderung: Von 7:00 bis 10:00 Uhr muss alles voll aussehen – egal, wie viele Gäste tatsächlich kommen. Das führt zu planbaren Überschüssen, die sich perfekt als Magic Bag eignen.
Viele Häuser haben inzwischen Abholfenster direkt nach Buffetende eingeführt, zum Beispiel von 10:30 bis 11:00 Uhr. Das macht die Abwicklung für das Service-Team einfach und sorgt für einen klaren Arbeitsfluss.
Hotellerieverbände wie die ÖHV berichten von erfolgreichen Kooperationen, etwa mit Hilton-Hotels, die über Too Good To Go bereits tausende Portionen gerettet und entsprechende CO₂-Einsparungen erzielt haben. Ein Hotelmanager beschreibt es so: „Das Frühstücksbuffet ist unser Aushängeschild, aber die Reste taten uns in der Seele weh. Durch die App kommen nun Nachbarn ins Hotel, die wir sonst nie erreicht hätten, und die Lebensmittel werden wertgeschätzt statt entsorgt.“
Wichtig bleibt bei Buffets die Hygiene: HACCP gilt auch für überschüssige Speisen. Kältekette, Temperaturkontrollen und der Zustand der Ware müssen einwandfrei sein. Oft nutzen Hotels kompostierbare Boxen oder setzen auf Mehrwegsysteme. Bring-your-own-Box-Modelle werden von Too Good To Go ausdrücklich unterstützt.
6. Herausforderungen & Kritik
Kein System ist perfekt – auch Food-Saving hat seine Stolpersteine.
• Kannibalisierungseffekte?
Die Sorge, dass Gäste bewusst bis Ladenschluss warten, um günstiger zu kaufen, bestätigt sich in der Praxis kaum. Die Zielgruppen unterscheiden sich deutlich: Berufstätige mit Lunchtime-Terminen sind selten identisch mit bemühten Sparfüchsen oder Studierenden.
• Verpackungsmüll?
Ja, er kann entstehen. Gerade wenn kurzfristig Boxen gebraucht werden, greifen Betriebe zu Einwegbehältern. Die Lösung: Mehrwegangebotspflicht nutzen, konsequent auf Systeme wie Vytal oder Relevo setzen oder Gäste bitten, eigene Behälter mitzubringen.
• Qualität?
„Reste“ heißt nicht „Abfall“. Verbraucherschützer betonen, dass die Kühlkette bis zur Übergabe eingehalten werden muss. Eine schlecht zusammengestellte Tüte führt nicht nur zu Reklamationen, sondern auch zu schlechten Bewertungen in der App – und das schadet mehr, als es Nutzen bringt.
• Nichts übrig?
Kommt vor – und ist eigentlich ein gutes Zeichen. In diesem Fall wird die Anzahl der Tüten in der App einfach auf null gesetzt. Transparente Kommunikation entschärft das Problem.
Fazit / Ausblick
Lebensmittelrettung ist längst kein Wohlfühlprojekt mehr, sondern ein wirtschaftlich relevantes Tool für Gastronomie und Hotellerie. Betriebe monetarisieren ihre Überschüsse, reduzieren Entsorgungskosten, erweitern ihren Kundenkreis und stärken gleichzeitig ihr Nachhaltigkeitsprofil. Die Leitfrage, ob der operative Aufwand sich lohnt, lässt sich heute klar beantworten: Ja – und zwar für fast jeden Betriebstyp, vom kleinen Café bis zum Hotel mit großem Buffet.
In den kommenden Jahren dürfte der Markt weiter wachsen. Mit strengeren Abfallregelungen, höherem gesellschaftlichem Bewusstsein und optimierten Mehrwegsystemen wird Food Saving zur festen Säule moderner Gastronomiekonzepte.
Wenn Sie jetzt starten, sind Sie Ihrer Konkurrenz einen entscheidenden Schritt voraus – und Ihre Mülltonne wird es Ihnen danken.
Kurz-Check für Ihren Betrieb
- Haben Sie täglich oder regelmäßig planbare Überschüsse (Backwaren, Buffet, Mittagsküche)?
- Können Sie das Packen der Tüten in ruhige Minuten integrieren?
- Haben Sie ein Mehrwegsystem oder klare Verpackungsrichtlinien parat?
Finden Sie auf mindestens zwei Fragen ein klares Ja, lohnt sich der Einstieg in Food-Saving-Apps so gut wie sicher.